STIPENDIUM DES KANTONS ST. GALLEN VOM 1. MAI - 31. JULI 2013
––STIPENDIUM DES KANTONS ST. GALLEN VOM 1. MAI - 31. JULI 2013
AUFENTHALT IM ATELIER SAN GALLO, 18, VIA DEI LATINI 00185 ROMA, QUARTIERE SAN LORENZO
FOGLIE DI ROMA - TRACCE D’ITALIANITÀ
DORIS NAEF M.A., FELSENBURG, FRAUENFELDERSTRASSE 4, 8570 WEINFELDEN
L‘Italianità
Mein Projekt in der «Città Eterna» befasst sich mit dem Aufspüren des lateinischen Flairs und der Barocken Kunst, die sich auch im üppigen Lebensgefühl ausdrückt. Besonders die Suche nach einer anderen Lebensweise hat mich beschäftigt, nach dem was wir heute unter Italianità verstehen.
Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen. Und so verhält es sich auch mit Rom.
Eine meiner ersten römischen Tätigkeiten war der Einkauf gleich um die Ecke auf dem kleinen Markt San Lorenzo. Schon der Einkauf an sich ist ein grosser sensorischer Genuss: Diese Auswahl an frischem,knackigen Gemüse und reifen Früchten, die Freude, wenn man dazu einen Prezzemolo geschenkt und einen guten Ratschlag für ein Fischrezept bekommt – das ergibt eine zusätzliche Dimension.
Duftende Spaghetti mit herrlicher Sauce essen zu können, dazu ein «bicchiere di rosso», für mich der Inbegriff von Italianità.
Wenn ich zum Frühstück in der Bar Marani einen cappuccino bestelle und dazu ein freundliches «buongiorno» höre, wird der gute Start in den Tag gewiss. In der Bar erfährt man vieles und es dauert nicht lange und ich bin in die Gemeinschaft aufgenommen.
Und dies zu einer gemütlichen Morgenstunde; Der römische Tagesablauf hat nämlich einen grossen Vorteil: Der Morgen dauert bis 14.00 Uhr, was mir als Spätaufsteherin sehr entgegen kommt.
Der italienische Alltag fasziniert mich und ich bin mit dieser Spontaneität durch die Stadt flaniert, habe mich treiben lassen und dabei eine Art kulturelle Gedächtnisforschung vorgenommen. Die leuchtenden Farben der Stadt im mediterranen Licht sind für mich einzigartig und inspirieren mich als Malerin und Fotografin.
Die drei Monate in der Atelierwohnung im Quartiere San Lorenzo gaben mir die notwendige Distanz von der eintönigen Routine im kleinstädtischen Schweizer Milieu.Täglich habe ich neue Entdeckungen gemacht und zahlreiche neue Ideen gesammelt. Meine Pause in der Anonymität der Grossstadt gab mir neuen Elan, Kreativität und Zeit, mich mit meiner inneren und äusseren Realität neu definieren zu können. Nachzudenken. Weiterzugehen.
Mit dem Thema «Foglie di Roma - Tracce d‘Italianità» habe ich der Geschichte meiner Stadtwanderung eine Gestalt gegeben, indem ich mich auf eine ganz neue Darstellungsform eingelassen habe. Mit meiner Fotokamera habe ich eine Art visuelle archäologische und kulturelle Zeitforschung betrieben, in dem Erinnerungsräume der verschiedenen architektonischen Epochen zusammengeführt wurden. Die grosse Zeitspanne der römischen Kultur bringt eine weitere Dimension in das «Gefüge». Dieses grandiose kulturelle Erlebnis auf Schritt und Tritt habe ich mit meinem eigenen Erinnerungsschatz und den persönlichen Erlebnissen in dieser vitalen Stadt verbunden.
In der ersten Zeit habe ich vor allem fotografiert und dann die erlebten Eindrücke und Gefühle ausgewertet. Hat mich ein Thema gefesselt, bin ich später nochmals mit der Kamera zurückgekehrt, um das Thema weiter zu beleuchten oder um mit dem Zeichenstift oder Aquarellpinsel meine Beobachtungen zu vertiefen und ihnen Farbe zu verleihen. Dabei verbinde ich die verschiedenen Epochen Roms mit meiner erlebten Geschichte. Auch die Fragen über die Wahrnehmung des Körpers im Raum und meines Empfindens im Stadtraum erneuern meinen Blick und mein Bewusstsein ständig. Sie stellen neue Bezüge her und werden unbewusst eingeflochten.
Bis heute ist von der Antike noch alles zu sehen – in Schichten übereinander oder nebeneinander. Ganz ähnlich verhält es sich mit meiner Bildgestaltung. Die Collagen von Zeichnung und Fotografie werden mit dem Computer neu zusammengeführt und in verschiedenen Ebenen und Überlappungen zu einem Bild komponiert. Dabei kann die Zeichnung neben der Fotografie stehen, hinter ihr verschwinden oder aber ineinander integriert werden. Es wird unklar was Foto und was Zeichnung ist. Die beiden Ausdrucksformen sind gleichwertig. Genauso wie der Blick zurück in die Vergangenheit Roms, der mit meinen persönlich erlebten Begegnungen im heutigen Rom verwoben wird. Durch diese Betrachtung entstehen Synergien, andere Verknüpfungen und neue Erinnerungsräume, die ich zu Bildformen und -schichten zusammenführe.
FOTOGRAFIEN ALS COLLAGE DEL QUARTIERE SAN LORENZO
In den ersten Wochen habe ich mich vor allem im Quartiere San Lorenzo umgesehen und habe die Welt aus meiner allernächsten Nähe, nämlich aus dem Fenster erkundet. Es entstand eine Fotoserie, die ich dann mit dem Computer zusammengeführt zu architektonischen Collagen habe.
(FOTOCOLLAGE 1)
AUSBLICK AUS MEINEM FENSTER MIT BAR MARANI, FOTOCOLLAGE 45 X 90 CM
(Fotocollage 2)
VIA LATINI 18 IL MIO VICINO, FOTOCOLLAGE 45X 90 CM
Viele der kleinen Quartierläden kämpfen ums Überleben. Ich habe sie in San Lorenzo besucht und mit meinem täglichen Einkauf unterstützt. Dabei habe ich vieles über das Quartier erfahren und liebe Freunde gewonnen.
Es tat mir leid zu sehen, wie die Spezialgeschäfte schliessen mussten. Sie haben sich lange gewehrt und ihre Öffnungszeiten bis spät abends verlängert. Das hat eine Schliessung vielleicht verzögern, aber nicht verhindern können. Auch hier sind die mächtigen Supermärkte mit billigeren Preisen gleicht um die Ecke und haben noch flexiblere Einkaufszeiten. Die Krise verspürt man hier sehr deutlich.
Anna ist eine geschickte Verkäuferin und hat immer ein sonniges Lächeln auf den Lippen.
(Fotocollage 3)
LA PROFUMERIA E COLTELLERIA, VIA VOLCI, FOTOCOLLAGE, 45 x 90 cm
Im Quartier gab es viele Graffiti, zum Teil auch als Beschriftung der Fensterläden, mal kunstvoll, lustvoll oder humorvoll.
Sie waren zugleich auch eine Werbung für das Lokal, wenn es geschlossen hatte.
Die «Profumeria e Coltelleria» gehört einem älteren Mann. Er ist Messerschleifer und führt auch Artikel für den Barbiere. Wahrscheinlich stammt dies daher, dass die «Barbieri» bei ihm ihre Messer schleifen liessen und gleich auch Parfumerieartikel einkaufen konnten.
Es war ein spezieller Besuch, denn der Signore erzählte, dass er schon mehrmals in Büchern erwähnt und auch fotografiert wurde.
Er war eitel und wollte so auf keinen Fall auf mein Foto.
(Fotocollage 4)
LA PIZZERIA SOTTO CASA, FOTOCOLLAGE, 45 x 90 cm
Unter meinem Atelierfenster gab es bei gutem Wetter fast jeden Abend ein Fest.
Dann wurden die Tische ins Freie getragen und es wurde aufgetischt. Gelächter und Essensgeruch drangen zu mir hinauf. Ich war alleine in Atelier, fühlte jedoch eine intime Verbundenheit mit den Lachenden, die mich bei der Arbeit begleiteten.
(Fotocollage 5)
ISTITUTO SVIZZERO, SALONE, FOTOCOLLAGE, 45 x 90 cm
Im Istituto Svizzero wurde ich wärmstens empfangen. Ich konnte auch die Bibliothek benutzen um mich in mein Thema des Barocks und im Speziellen in das Werk von Francesco Borromini (1599 - 1667) zu vertiefen.
Dazu habe ich verschiedene Bücher studiert und alle seine architektonischen Meisterwerke besucht. Viele konnten nur auf Voranmeldung besichtigt werden oder bedurften einer Bewilligung. Dies verzögerte oft mein Anliegen, denn die Anfrage musste formell und schriftlich begründet werden. Ich habe mich als «artista e ricercatrice svizzera» ausgegeben. Dies öffnete mir dann auch verschiedene Türen, die der Öffentlichkeit verschlossen bleiben, wie beispielsweise zur Villa Doria Pamphili, heute im Besitze der italienischen Regierung.
(Fotocollage 6)
DESIGNCONTEST IM ISTITUTO SVIZZERO, FOTOCOLLAGE,
45 x 90 CM
DIGITALE BILDCOLLAGEN KOMBINIERT MIT
ZEICHNUNGEN ZUR ARCHITEKTUR VON BORRIMINI
(Seite 21)
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Francesco Borromini und der Barock sind in Rom eng mit der Geschichte der einflussreichsten Familien und deren Päpste verbunden, wie Urban VIII (Barbarini) und Innocent X (Panphili).
Baudenkmäler, Palazzi und Kirchen sind immer wieder mit den Wappenzeichen dieser Würdenträger und deren Familien verziert und geben Aufschluss über deren Einfluss auf Politik und Kulturgeschichte, was verschiedene Querverbindungen erlaubt.
Wer hat damals Borromini unterstützt? Wer hingegen hat seinen Rivalen Bernini (1598 - 1680) benutzt, um seine Macht zu demonstrieren?
Borromini war aus dem Tessin nach Rom gekommen, um seinem Onkel mütterlicherseits Carlo Maderno im Vatikan auf der Baustelle des Doms zu assistieren. Er hoffte auf eine leitende Funktion nach dessen Tode, doch dieses Amt war schon für Gian Lorenzo Bernini vorgesehen. Borromini musste in Rom zuerst seine Genialität unter Beweis stellen. Dies gelang ihm erst, als er für die Schwestern des Spanischen Trinitarierordens sein erstes autonomes Bauwerk ausführen konnte: die Kirche und das Kloster San Carlo alle Quattro Fontane. Auch das klappte nur, weil er gratis arbeitete.
DAL DENTISTA ALLA PIAZZA NAVONA, 176 X100 CM
Im Mai, dem ersten Monat meiner römischen Zeit, war es kalt und es regnete viel. Kein mediterraner Frühling, der ins Freie lockte.
In dieser Zeit hatte ich ein Zahnproblem und musste einen Zahnarzt in Rom finden. Ich staunte nicht schlecht, als ich in seine Praxis kam. Sie hatte eine Aussicht auf die Piazza Navona, einen der schönsten Plätze Roms.
Eine Wurzelbehandlung zwang mich mehrmals hinzugehen. Der Obelisk über Berninis Brunnen und Sant’ Agnese in Agone von Borromini waren einmal wöchentlich in meinem Blickwinkel.
Es entstand dieses Bild mit einer mir noch neuen Arbeitsweise, mit zwei verschiedenen Ausdrucksformen, die digital zu einer Synthese zusammengebracht wurden.
Borromini hat für die Fassade eine interessante Technik verwendet, die sein Kennzeichen wurde: die konkave und konvexe Formensprache.
Die erlebten und imaginierten Stadtwanderungen in Rom wurden mit den Fotos oder Zeichnungen der historischen Baudenkmäler zu einer Schicht-Collage «Im Lichte der Erinnerung» zusammengefügt. Sie verbindet die geschichtliche Vergangenheit mit der lebensfrohen Leichtigkeit des heutigen Roms.
Hier ist meine Impression der «Uccelleria» in der stolzen Villa Borghese.
In diesem kleineren, verspielten Palazzo mit den Türmchen wurden einst exotische Vogelarten gehalten. Er hat mir besonders gefallen und ich bin mehrmals dorthin gepilgert, um dieses barocke Baudenkmal zu betrachten und zu zeichnen.
UCCELLERIA ALLA VILLA BORGHESE, 100 x 176 CM
DIANA ALLE QUATTRO FONTANE
Es gibt einige wunderschöne barocke Brunnenanlagen in Rom. Ich habe viele davon fotografiert, denn dass das Wasser in Rom als Elixierspender galt, ist nicht zu übersehen. Die Wasserläufe wurden während der Römerzeit in vielen Aquädukten in die Stadt geführt. Über diese Wasseranlagen alleine liesse sich ein Fotozyklus erstellen.
Stellvertretend habe ich eine Arbeit über Quattro Fontane gemacht. Es sind die vier barocken Brunnen, welche die Kreuzung der antiken Via Pia und der Via Quattro Fontane auf dem Quirinal-Hügel bilden. Sie geben gleichzeitig der Chiesa San Carlo alle Quattro Fontane von Borromini den Namen.
Diese vier Brunnen sind den Flüssen Arno und Tiber, und den Göttinnen der römischen Mythologie, Diana und Juno gewidmet.
Die Fotos der verschiedenen Brunnen sind mit meinen Zeichnungen, meiner eigenen Geschichte vermischt und zu einer digitalen Collage komponiert.
Hier ist der Barock in seiner ungestümen Kraft versinnbildlicht.
DIANA, 100 x 150 CM (S.27)
SAN CARLO ALLE QUATTRO FONTANE
Das erste autonome Werk von Borromini sind Kirche und Kloster San Carlo alle Quattro Fontane, auch San Carlino genannt. Es gilt als sein Hauptwerk und überzeugt durch eine ausgereifte Barockarchitektur auf kleinstem Raum. Das Kloster und die Kirche wurden zwischen 1635 und 1641 errichtet, die Fassade wurde erst 1665 begonnen und 1682, fünf Jahre nach seinem Tod beendet.
Einerseits ist die räumliche Einheit ist sehr komplex, anderseits besticht sie durch die Einfachheit ihrer geometrischen Formen. Der Grundriss ist eine Ellipse, geformt durch zwei Kreise mit zwei gleichseitigen aneinander liegenden Dreiecken.
SAN CARLO ALLE QUATTRO FONTANE, 100 x 150 CM
LA SAPIENZA
Papst Urban VIII regte den Bau der Universität La Sapienza an und gab Borromini den Auftrag. Zwischen 1642 und 1650 entstand dieser sehr eigenwillige Bau, wohl einer der kühnsten des Meisters und des ganzen Barockzeitalters.
Die Kirche Sant'Ivo alla Sapienza, verfügt über einen eigenartigen und verspielten Kirchturm. Der Grundriss zeigt einen sechseckigen Stern. Auch hier ist Borrominis bewegte und rhythmische Architektur zu erkennen, bei der es scheint, als würde jegliche Statik überwunden. Viele Symbole sind zu erkennen, die vor allem auch die Familienwappen der verschiedenen Auftraggeber darstellen: beispielsweise die Hügel und Sterne der Chigi, die Biene der Barberini und die Taube mit dem Palmzweig der Pamphili. Die Einheit dieser symmetrischen Anlage ist sehr eindrücklich.
Der Hirsch krönt die benachbarte Kirche Sant‘Eustachio.
SANT IVO ALLA SAPIENZA, 150 x 100 CM
LA BIBLIOTECA VALLICELLIANA (S. 33)
Am Palazzo Barberini, der von Maderno und später von Bernini erbaut wurde, war auch Borromini beteiligt. Man kann unter anderem sein spiralförmiges Säulen-Treppenhaus bewundern.
Mit dem Bau des Oratorio und der Casa dei Filippini wurde Borromini 1637 beauftragt. Die Fassade schwingt sich konkav aus und tritt dadurch in Beziehung mit der städtischen Umgebung. Im selben Gebäudekomplex befindet sich auch die Biblioteca Vallicelliana, die meinem Bild den Namen gibt. Borrominis Förderer und Freund Spada hatte die Bauaufsicht und setzte sich immer wieder für ihn ein. Er gab ihm auch die Möglichkeit, in seinem Palazzo den Säulengang in verkürzter Perspektive anzulegen, ähnlich einer Theaterkulisse –eine geniale Idee.
LA VALLICELLIANA 150 x 100 cm
Caecilia Metella (S. 35)
Während der römischen Zeit wurden grosse Grabstätten entlang der Via Appia erstellt. Eine davon ist jene von Caecilia Metella. Die Via Appia wird durch das Tor San Sebastiano erreicht. Dort gibt es diesen Engel, den ich hier integriert habe, ein Schutzengel für die Wanderer.
Im Juli gab es entlang der Via Appia ein schönes Sommernachtfest, «son et lumière». Dabei war das Grabmal der Caecilia Metella hell erleuchtet und erhielt dadurch eine übergrosse und mystische Erscheinung. Diese Atmosphäre habe ich mit dieser Bildkomposition eingefangen.
CAECILIA METELLA, 150 x 100 cm
COLOSSEO (S. 37)
Die Postkarte mit dem Colosseo erhielt ich von meinem Vater in den sechziger Jahren. Sie hat bis heute überlebt und ist mit mir nach Rom zurückgekehrt.
Diese Karte hat mich animiert, eine Variation des Kolosseums in verschiedenen Beleuchtungen, ähnlich dem Tagesablauf, zu kreieren.
Mit dem Colosseo-Fries schliesse ich die Bilderreportage aus Rom mit einem Dank an die Adresse des Kantons St. Gallen für diese drei überaus reichen und kreativen Monate, die ich in der «Città Eterna» erleben durfte.
Weinfelden, im Oktober 2013
Doris Naef